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1000-Jahr-Feier in Kasan

Wodka und Koran

Mit viel Pomp will der Kreml in Tatarstan Risse hinter der Feier-Fassade verschleiern.




Selbst mit einfachen Bruchrechnungen hat Mathematik-Professor Mars Schamsudinow seit einigen Jahren ein Problem: Wenn er seinen Kindern bei Rechenaufgaben helfen soll, weiЯ der 65-jдhrige Tatare oft nicht weiter. Nicht, dass er zwei und zwei nicht mehr zusammenzдhlen kцnnte. Schamsudinow und seine Sprцsslinge sprechen unterschiedliche Sprachen.

Verschwommene Trennlinien

Nur selten verlдuft die Trennlinie zwischen Tataren und Russen, zwischen Moslems und Christen in Tatarstan so schmerzhaft wie in der Familie Schamsudinow. Die russische Teilrepublik an der Wolga, 700 Kilometer цstlich von Moskau und so groЯ wie Bayern, gilt seit Jahrhunderten als Musterbeispiel fьr das friedliche Zusammenleben zwischen Moslems und Christen. Im Kreml der Hauptstadt Kasan stehen eine Moschee und eine Kathedrale auf engstem Raum nebeneinander.

Mit viel Pomp und Staatsgдsten zelebriert Moskau dieser Tage die 1000-Jahr-Feier von Kasan. Die offizielle Botschaft: Im Zeitalter des Terrorismus und des Tschetschenien-Krieges steht Tatarstan fьr die Einheit Russlands und seiner Religionen.

Rumoren hinter Feier-Fassade

Doch hinter den Feier-Kulissen rumort es: Mit seiner Politik der harten Hand und der Zentralisierung sorgt der Kreml bei vielen Tataren fьr Unmut und treibt Islamisten und Nationalisten neue Anhдnger in die Hдnde. Wie alle russischen Gouverneure wird etwa der Tataren-Prдsident kьnftig nicht mehr gewдhlt, sondern vom Kreml eingesetzt.

Auch untersagte Moskau den Tataren, die lateinische Schrift zu nutzen: Sie mьssen weiter Kyrillisch schreiben. Viele fьhlen sich bevormundet.

Sprachlosigkeit in der Familie

Weil Mathematik-Professor Schamsudinow wie die meisten Tataren auЯerhalb von Tatarstan in Russland aufgewachsen ist, hat er die Sprache seiner Vorfahren und die islamischen Traditionen nie gelernt.

Als seine Frau Anfang der 90er-Jahre auf dem Hцhepunkt der Nationalitдtsbewegung einen Sohn und eine Tochter zur Welt brachte, erzogen sie die beiden tatarisch. „Ihr Russisch-Wortschatz reicht genauso wie mein tatarisch aus, um ьber das Wetter zu sprechen – aber kaum fьr Mathematik oder Politik“, klagt Schamsudinow.

Traum vom eigenen Staat

Vergeltung fьr das private Ungemach suchte der Mathematiker lange Zeit im „Alltatarischen Gesellschaftszentrum“ – der tatarischen Nationalbewegung. Mit seinen Mitstreitern trдumte er von einem eigenen tatarischen Staat – unabhдngig von Moskau: „Eigenstдndigkeit ist vielleicht nicht realistisch. Aber Moskau nimmt uns unter Wladimir Putin immer mehr an der Leine, macht uns wieder zur Kolonie. Notfalls sind wir bereit, fьr unsere Freiheit zu kдmpfen.“

„Bush und Putin Terroristen“

Zum Jahrestag der Eroberung Tatarstans durch Iwan den Schrecklichen 1552 gingen in den vergangenen Jahren immer wieder Tausende Demonstranten auf die StraЯe. Mit Plakaten wie „Bush und Putin – Ihr seid die grцЯten Terroristen“ und „Hдnde weg von den islamischen Staaten Afghanistan und Tschetschenien“ machten sie gegen die Zentralmacht Stimmung.

„Kein Platz in der Seele“

Doch trotz solch rauer Tцne glaubt kaum jemand, dass in der Wolga-Republik ein ernster Konflikt zwischen Christen und Moslems wie in Tschetschenien drohen kцnnte. „Wir sind immer noch eine kommunistisch geprдgte Gesellschaft. Der Islam und das Christentum haben noch keinen so tiefen Platz in den Seelen der Menschen gefunden“, meint Prдsident Schaimijew.

Wodka und Schwein

Mufti Gusman Ischakow, geistlicher Oberhirte der Tataren, legt seine Stirn unter dem Turban in dicke Falten und preist die Freundschaft mit den Christen: „Wir lieben den goldenen Mittelweg“. Der Mufti hдlt nichts von Schleiern fьr Frauen und verurteilt auch niemanden, nur weil er Schweinefleisch isst oder Wodka trinkt. Ischakow sendet schon mal Bauholz an Vater Wsewolod ins orthodoxe Raifskij-Kloster.

Holzpulver als Blutstiller

Die Grenzen zwischen den Religionen verlaufen in Tatarstan flieЯend: Umar Sadyk, Geistlicher und Fachmann fьr Beschneidungen, bietet seine Dienste schon mal „Unglдubigen“ an: „Oft kommen Christen, aus Angst vor Krankheiten.“ Sadyks hat sein Handwerk von seinem Vater gelernt – der den heiklen Eingriff zu Sowjetzeiten noch heimlich machte. Statt Narkose gab es Holzpulver als Blutstiller.

Christen essen islamisch

Heimlichkeit hat der Islam im neuen Russland nicht mehr nцtig. Gab es vor 20 Jahren noch 17 Moscheen im Land, so sind es heute mehr als 1000 islamische Gotteshдuser.

Und selbst das цrtliche Fleischkombinat zollt inzwischen Allah seinen Tribut: Der Direktor lдsst inzwischen auch „auf islamisch“ schlachten, mit Messer statt mit Stromschlag. „Das schmeckt auch Christen besser“, freut sich der Direktor, „und obwohl das Kilo acht Pfennig teurer ist, geht das Fleisch weg wie warme Semmeln“.



Focus, August 29, 2005