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In Kazan hat der Kanzler gute Kontakte

KAZAN – Gerhard Schrцders Wahlsieg im fernen Deutschland „hat Tatarstan mit Freude begrьЯt", wie der Vizedirektor des Amtes fьr Auswдrtige Beziehungen, Dinar Ismagilow, zum Gesprдchsauftakt versichert. Tatarstan? Dieser Цlstaat inmitten RuЯlands, mit der Millionen-Metropole Kazan an der Wolga, strebt seit Jahren nach grцЯtmцglicher Eigenstдndigkeit gegenьber Moskau und pflegt emsig internationale Kontakte. Der im Kreml, der alten Burg von Kazan hoch ьber dem Strom residierende Prдsident Mintimer (ьbersetzt „der Eisenharte") Schaimijew flog 1994 zur Hannover Messe. Niedersachsens Ministerprдsident kam ein Jahr darauf zum Gegenbesuch, Manager im TroЯ. Die Folgen: Der Gummi-Multi Continental plant eine Reifenfabrik vor Ort, VW kooperiert mit dem Lkw-Konzern Kamaz und errichtet einen Zulieferbetrieb, die Wolfsburger Tochter Audi bezieht Aluminium fьr Luxuskarossen von dort.

Absahner an der Cфte

Exempel fьr konkrete zweckgebundene Projekte zur Zusammenarbeit, wдhrend Helmut Kohl seinerzeit als eine Art finanzielle Milchkuh dem Freunde Boris Jelzin Milliarden zuschanzte fьr „Reformen", deren Inhalte nie genauer umrissen wurden. Gezielt gemolkene Mittel, die, so mutmaЯen Bisnesmeni (Geschдftsleute) in der IHK von Kazan spцttisch, „von unseren Absahnern an der Cфte d'Azur reinvestiert worden sind".

Die Tataren haben gerade den siebten Jahrestag ihrer Souverдnitдtserklдrung gefeiert. Sie erinnern auch Journalisten aus der Bundesrepublik, die einem Reisevorschlag des Bonner Deutsch-Russischen Forums gefolgt sind, gerne daran, wie clever sie damals in diesen aufwьhlenden Jahren 1990 bis 1992 die sich bietenden Chancen beim Schopf ergriffen haben. Die beginnenden Auflцsungserscheinungen des sowjetischen Imperiums, RuЯlands eigene Unabhдngigkeitsdeklaration, auЯerdem Jelzins sprengkrдftige Aufforderung an alle Nationalitдten der UdSSR, sich so viel Freiheit zu nehmen, „wie ihr schlucken kцnnt . . .".

Tatarstan ging – anders als etwa Tschetschenien, das fьr seinen spдteren Aufstand mit hunderttausendfachem Tod und Verwьstung bьЯen muЯte – stets gewaltlos seinen Weg. Der fьhrte, nach beharrlichen Verhandlungen, vor vier Jahren zu einem Abkommen mit Moskau. Danach kann die emanzipierte Region Steuern erheben, Rohstoffe selber verkaufen, in inneren Angelegenheiten Gesetzeshoheit beanspruchen, das Recht auf Selbstverwaltung wahrnehmen.

Das zahlt sich jetzt aus fьr die an Flдche mit Bayern vergleichbare Republik und ihre 3,7 Millionen Einwohner. In RuЯlands bisher schwerster Finanzkrise versuchen Staatschef Schaimijews Behцrden mit Elementen staatlicher Lenkung gegenzusteuern. Fьr Mieter aus verfallenden Hдusern im Zentrum – die seit den Zeiten des an der цrtlichen Universitдt studierenden Leo Tolstoi keinen Aufputz mehr bekamen – ziehen sie Neubauten am Stadtrand von Kazan hoch. Die

Verwaltung subventioniert Grundnahrungsmittel wie Brot und Milch, mьht sich, durch groЯzьgige Energielieferungen an die heimische Industrie, Steuererleichterungen, strikte Preiskontrollen und Zuzahlungen fьr Rentner wie andere Arme das Elend zumindest abzumildern.

Wer eine regulierte Wirtschaft als Rьckfall in sowjetische Methoden verteufelt, erntet hier allenfalls Schulterzucken. Die chaotischen Moskauer Erneuerungsexperimente hдlt niemand mehr fьr tauglich. Und wдhrend Mitglieder der Handelskammer von Kazan bekennen, mittlerweile Ludwig Erhards ins Russische ьbersetzte Schriften ьber die soziale Marktwirtschaft zu bьffeln, weist Tatarstans Vizepremier Muratow Forderungen des Westens nach einer Fortsetzung erzkapitalistischer Schocktherapien gelassen zurьck. „Wir alle haben zunдchst geglaubt, daЯ das Wunder des freien Marktes sдmtliche Probleme lцst. Doch hat Tatarstan schnell begriffen, daЯ jede Цkonomie Aufsicht braucht, um im Dienste der Menschen zu stehen."

Zerfall, Diktatur?

Der 61jдhrige Schaimijew weiЯ allerdings, daЯ jeder Versuch zur vцlli gen Loslцsung von der Fцderation zum Scheitern verurteilt wдre. Nicht am Rande, sondern in der Mitte RuЯlands gelegen und mit einer Bevцlkerung, die zu 48 Prozent aus Tataren, zu 43 Prozent aus Russen besteht, kцnnte er sich einen derart radikalen Schritt gar nicht leisten. Sein Berater Raphael Khakimow erlдutert den schwierigen Balanceakt als Strategie dieser und anderer Regionen, „aus RuЯland einen echten Bundesstaat wie die USA oder Deutschland" zu machen. Jedenfalls werde „die Frage, ob RuЯland auseinanderbricht oder gar in eine Diktatur zurьckfдllt, in Moskau entschieden – nicht von uns".

Zunдchst einmal muЯ Tatarstans Elite den eigenen Laden zusammenhalten – und das scheint schwer genug. Stets den Kaukasus und auch den Balkan vor Augen, achtet man sorgfдltig auf Gleichbehandlung der ethnisch und religiцs unterschiedlichen Gruppen. Tatsдchlich glдnzen ьber den Dдchern des Kreml im sagenumwobenen Kazan sowohl Kreuze als auch Halbmonde in purem Gold, wird nahe der Stelle, wo Zar Iwan IV., „der Schreckliche", 1552 die Festung des tatarischen Khanats als Eroberer schleifen lieЯ, heute wieder eine mдchtige Moschee von tьrkischen Gastarbeitern gebaut.

Der Mufti, das moslemische Oberhaupt dieser faszinierenden Nahtstelle zwischen Europa und Asien, bestдtigt schon durch sein Auftreten die Worte des Prдsidentenberaters, daЯ Fundamentalisten aus dem explosiv-extremistischen Gьrtel von Algerien bis nach Afghanistan „bei uns nicht akzeptiert werden". Gousman Ishkakow (41), der in der weithin berьhmten Kazaner Mardschani-Moschee zum Tee lдdt, empfдngt seine Gдste aus Deutschland per Handschlag mit einem herzlichen „As-Salam-Aleikum", dem FriedensgruЯ. Dieser Imam erlдutert seine religiцse Linie als reformorientierten toleranten Islam. Dennoch – beim Blick auf die Zukunft verhehlt Ishkakow seine Sorgen keineswegs und spricht die zunehmende Militanz jugendlicher Vorbeter an, die zur Ausbildung nach Saudi- Arabien oder Pakistan geschickt wurden und als Fanatiker zurьckkehren.

"Nurnberger Nachrichten", Freitag, 13. November 1998.

Reise in eine Region an der Wolga, die ihre Eigenstдndigkeit gegenьber Moskau hervorhebt von Christian S. Krebs

Christian S. Krebs
"Nurnberger Nachrichten", Freitag, 13. November 1998.